Was mach ich hier eigentlich die zwei Monate in den USA und Kanada unterwegs?
In den letzten Tagen hörte ich mich sagen: "I guess, I'm figuring out my possible future whereabouts." Schließlich war das Hauptziel meiner Reise zu sehen, ob die mir wärmstens empfohlene, alternative Westküsten-Stadt Portland, OR ein möglicher Ort meines zukünftigen Seins und Schaffens sein könnte. Auf nach Portland geht es aber erst am 7.Juni… aber schon auf dem Weg dahin zieht es mich Dank Freunde und Bekanntschaften an spannende und inspirierende Orte wie Montreal und Ithaca, NY. Meine gesamte Reiseroute findet ihr hier.
// 10 squaremiles surrounded by reality…
Gerade befinde ich mich in Ithaca, NY ganz unerwartet: eine Öko-Hochburg 3,5 Stunden von New York City entfernt. Ithaca selbst liegt an einem der Finger Lakes in Mitten von steilen wildgrünen Wald-Hügeln. Auf den Stoßstangen-Aufklebern steht: „10 square miles surrounded by reality.“ was auf die progressive Andersartigket des Städtchens hinweist. Hier gibt es seit einiger Zeit eine sehr strebsame alternative Öko-Szene, Plastiktüten werden gewaschen und wiederverwendet, Abwaschlappen ebenso und der Seifenspender ist ein Einweck-Glas mit abgewandeltem Pump-Deckel. Hier treffen Ästhetik und funktionaler Umweltschutz wunderbar aufeinander :) Der Farmers’ Market ist reich bunt bestückt mit frischem grün und fast ausschließlich vegetarischen Optionen an den Imbissständen, was meiner Meinung nach die geringe Nachfrage reflektiert. Im lokalen Bio-Supermarkt gibt es ein Bulk-Compartment (Schlaraffenland des Unverpackten) und das Bio-Gemüse ist fast nie eingepackt im Regal und alles dank Coop-System sogar erschwinglich. Ein Träumchen. Um die Ecke auf dem nächsten Hügel schleicht auch gleich das EcoVillage mit seinen drei verschiedenen Nachbarschaften Frog, Song und Tree um die Ecke, dessen Gründung um 1996 geschah. Soziokratisch / Dynamisch Demokratisch organisiert werden hier Entscheidungen getroffen, Verantwortungen geteilt, in AG’s mit Repräsentanten Abstimmungen getroffen (aber sinnvoller Weise nur unter den Leuten, die mind 90% der Treffen auch bei den Diskussionen anwesend waren). Über die Architektur lässt sich streiten. In Frog, der ersten Siedlung, war manchen die Nähe der Häuser und dadurch die Gemeinschaft zu stark, sodass die Familienzeit zu kurz kam. Das wurde in der zweiten Siedlung durch mehr Raum behoben. Schön ist, dass es frische Eier von den gemeinschaftlich gehaltenen Hühnern gibt und auch allerhand anderer Ressourcen schlau geteilt werden. Für die 3 Waschmaschinen für +30 Leute der Siedlung gibt es einen Zeitplan für jede Partei…
Aber ich bin ja gar nicht wegen des EcoVillage hergekommen…
// Bridge-Buddies – VERBINDUNGEN, die die Welt kleiner machen
Nach Ithaca kam ich durch eine zufällige Bekanntschaft vor zwei Jahren mit Christina, im Zug auf dem Weg an die Westküste. Sie lud mich damals hierher auf ihre Farm mit ihrer Familie ein.
Dazu kam die Einladung von der ebenso zufälligen, aber weitreichenden Bekanntschaft mit Brendan, den ich damals (2011) auf dem Weg zu Occupy Wallstreet fragte, wie ich mit dem Rad denn den Weg auf die Brooklyn Bridge finden könnte. Ich folgte ihm. Verlor ihn auf der Brücke aus den Augen und blieb für ein paar Fotos von Brooklyn im schönen Abendlicht auf der Brücke stehen.
Im Sucher hab ich ihn die Aussicht genießend wiederentdeckt und natürlich angesprochen. Wir sollten uns noch weitere Male zufällig auf den Brücken von New York treffen und gaben uns seitdem den Namen „Bridge-Buddy“. Durch ihn kam ich zu einem Trade School – Barter for Knowlegde Fundraising-Treffen, was die Initialzündung für mein darauffolgendes Semesterprojekt in Halle werden sollte: die TAAK! Tauschakademie. Durch die Trade School in Berlin traf ich Pavlik Elf (der übrigens seit mehreren Jahren ohne Geld und Pass lebte), der mich auf Facebook auf das erste OuiShare Fest in Paris aufmerksam machte. Nun, dank OuiShare gab es eine schier endlose Zahl an bedeutsamen Begegnungen und Projekten ( Sam Muirhead mit seinem Year-Of-Open-Source, OpenItAgency, Thinkfarm, etc.), die mein Leben bereichern und formen sollten.
So ergab es sich beim letzten OuiShareFest, dass ich beim Abwaschen (der beste Ort zum Leute kennenlernen!) Sam Oslund aus Montreal kennenlernte. Er begann gerade seine zweimonatige Entdeckungsreise durch Europa, auf der Suche nach Projekten, die Open Source Hardware, Farming und Community-Building zusammenbringen und kam nach dem Fest spontan mit uns mit in den Wald südlich von Paris zum Bouldern (klettern ohne Sicherung an Felsbrocken). Im Juni kam er dann nach Berlin und sogar nach Werder. Ich könnte gefühlt einen ganzen „Inspiriational Essay“ über ihn schreiben, weil es so schön anzusehen ist, wie jemand all seine Talente ausleben und vereinen kann. Der Essay in Stichpunkten: Student der Antrophologie, Farmer, Zimmermann, Illustrator/Grafik-Designer, man of absurd humor, Cook, Writer, Community Builder, sehr sozial und feinfühlig, Maker, Denker, sharp Minded and over all: VERY …h u m b l e …
// Oase am Rande MONTREAL's – Die Gemeinde von Sainte Anne-de-Bellevue
Die Zeit bei Sam in Montreal war für mich ein Eintauchen in ein Leben mit einer Nachbarschaft, die über ein sehr gesundes, gemeinschaftliches Sozialgefüge verfügt. Das Haus in dem Sam lebt, ist ein Mikrokosmos der Fülle. Er lebt mit einer Patchwork-Familie mit 2-3 Teenagern und mit Clémence, die die freiwilligen-basierte Bio-Farm von dem Urban Gardening Projekt Santropol Roulant* managed (die Farm hat natürlich Sam mitgegründet).
Die Gemeinde heißt Sainte Anne-de-Bellevue, liegt am westlichen Zipfel von der Île-de-Montréal, direkt am Wasser. Ein kleines süßes Städtchen mit einem Auslass der McGill Universität, wo alles zu Fuß zu erreichen ist und die erwähnte Bio-Farm ist auch nur 20 Minuten mit dem Rad entfernt. Gerade an dem Wochenende, an dem ich ankam, sollte neben dem 2. Frühling für mich, auch noch das „Collabaret“ stattfinden: eine kleine bunte Talenteshow der Nachbarschaft, die ihren Ursprung vor 4 Jahren in der Küche von Sam’s Mitbewohner*innen fand. Hier können sich die Freunde und Freunde’s Freunde alle nochmal von einer anderen Seite kennenlernen. Statt offizieller Werbung kamen rund 80 Menschen allein dank Mundpropaganda zusammen. Es war total schön mitzuerleben, wie beim Spaziergang über den morgendlichen Farmer’s Market nochmal alle Beteiligten des Collabaret spontan letzte Ab- und Rücksprachen für das Abendprogramm mit Sam hielten und er wiederum alles so tiefen-entspannt und flexibel bleibend annahm, aber auch sieht, wenn er etwas delegieren sollte. Ich durfte dann z.B. eine gute Stunde lang 160 Postkarten aus den Stapeln von Hunderten toller 25cent-Postkarten im Gebrauchtbuch-Laden fischen. Diese Postkarten wurden dann am Abend als Eintrittskarten an die Collabaret-Besucher*innen gegeben, um dort ihre Adresse drauf zu schreiben. Im Laufe des Abends, sollte dann jede*r eine Nachricht an den Adressaten verfassen und die Karten wieder zu mir geben. Eine Aktion, die von Sam’s Mitbewohner*innen mehrfach als absurd beäugt wurde, vor allem aufgrund des Portos bei den kurzen Distanzen der Nachbarschaft ;) aber Sam fand genau das daran so interessant und am Ende ist es einfach eine schöne Aktion gewesen. Wobei man einem Großteil der Leute erstmal erklären musste, wo auf einer Postkarte die Adresse hinkommt… aber dafür war ich ja da.
Es war schön diese Menschen durch diesen Abend kennenzulernen und einen Eindruck von dieser sehr durchmischten Gemeinde zu bekommen. :) Spezielle Menschen, jung, alt, etwas merkwürdig, aber sehr liebenswert, eigen und schroff, lustig und kreativ und vor allem einander wohlgesonnen.
Zudem gibt es die Nähe zu Montreal, welches politisch sehr aktiv ist und eine starke öko-soziale und kreative Szene hat. Dort konnte ich im Büro meiner Freundin und Ex-Werderschen Conny, bei Jour de La Terre (Tag der Erde) an meinen Projekten arbeiten – denn ja, es ist eine Work-&-Travel-Reise für mich. Conny beaufsichtigt dort ein Projekt, das über Jahre hinweg mehrere Tausend Bäume pflanzen lässt, um grüne Wald-Korridore zu erschaffen, die die Durchmischung und somit Resilienz von Gen-Poolen einzelner Tier- und Pflanzenarten fördert.
Ich hatte das Gefühl mich sehr gut mit dem Ort und den Menschen verbinden zu können. Der starke Wunsch, Teil einer solchen Gemeinde zu sein, stieg in mir auf. Zumal die Einwanderungs-Bedingungen für Kanada sehr einladend sind im Vergleich zu den USA; lediglich Papierkram mit Übersetzungen und ca. 1500€ für die Bearbeitung des Antrags. Zack. Tada – hier kommt Kanada!
// WERDER, Should I stay or should I leave you?
Mit Sam habe ich mich viel darüber ausgetauscht, wo der beste Ort für das eigene Wohlsein und Schaffen ist. Er kam zuletzt aus einer Situation, die meiner sehr ähnelt: statt auf der Farm seiner Eltern – die Eltern sind befreundet, aber kein Paar mehr – im Westen, in British Columbia zu bleiben und die Familie dort vor Ort zu unterstützen, entschied er sich dauerhaft nach Montreal zu gehen und dort seine eigene Lebenswelt zu leben, und somit eine Quelle von Energie für seine große Familie sein zu können (er hat acht Geschwister). In Montreal hatte sich mittlerweile auch die oben beschriebene Gemeinschaft um ihn herum aufgebaut und es wäre eine Verlust, diese hinter sich zu lassen, sowie harte Arbeit, an einem neuen Ort wieder mehrere Jahre zu investieren, bevor dieses Gefühl und dieselbe Dynamik auftauchen würde. Als wir über Werder sprachen, tauchte natürlich die Frage auf, ob es einfach nur Zeit braucht für mich, an diesem Ort so ein Gefühl von Dazugehörigkeit und Gemeinschaft zu entwickeln. Aber es ist wirklich schwer für mich, überhaupt den inneren Punkt, die innere Haltung zu erreichen (und aufrecht zu erhalten!!!), von der aus ich zutiefst mit Motivation und Hoffnung erfüllt in Werder wirken will. Im letzten Sommer habe ich zwei Monate lang intensiv versucht, mich meinem Heimatort zu widmen. Es war etwas schwierig das Interesse aufrecht zu erhalten. Berlin klopfte unerwartet oft an und zog mich in seinen bunten Schlund. Im September haben sich (endlich) die Klimanauten Werder (Umweltschutz im Alltag) zusammengefunden und das war ein sehr spannender Moment, denn das Potenzial von Werder zeichnete sich bereits ab; essbare Verkehrsinseln und Tausch-Plattformen wie in der Ur-Transition Town Totnes schienen in greifbare Nähe zu rücken, aber letzendlich sind die Bewohner*innen Werders, doch fast so stark eingebunden wie in Berlin und so scheiterten die letzten drei geplanten Treffen an der niedrigen Teilnehmerzahl… Werder macht sich immer attraktiver, es gibt ja immerhin das gemeinschatliche Wohnprojekt Uferwerk, es gibt Künstler*innen, es gibt das junge Stadtmagazin "Wir sind Werder", es gibt mitunter ziemlich schöne Architektur, es gibt Ruine und ein wenig Brachland, es gibt Natur, aber es gibt viel zu viel Baumbeschnitt, steigende Mieten, immer engeren Wohnraum und wenig Dialog mit den Bürger*innen, sodass ich mich sehr unfrei fühle. So passiert es, dass ich mich wenig mit dem Ort außerhalb unseres Grundstücks und der Natur identifiziere. Aber auch unser Grundstück hat an sich soviel Potenzial, was unerforscht ist, was die Energieversorgung betrifft, die Bewirtschaftung, die Nutzung als Ort des Zuammenkommens.
// Eine Haltung der Fülle
Es gibt unser Haus in Werder, das eine WG ist, und ich würde mir wünschen, von derselben "Abundance"-Haltung her, wie Sam und sein Umfeld sie haben, zu agieren. Eine Haltung von Fülle. In Sams Haus ist es überhaupt kein Thema, wie was geteilt wird. Es wird ständig kreuz und quer vom Ober- wie Untergeschoss einander zum Essen eingeladen, jede*r kocht gern für den anderen, es werden Ideen getauscht; als nächstes wird der Schuppen zu einer Fahrrad-Werkstatt umgebaut, sodass nach und nach überall dezentrale Skill-Share / Werkstatt-Locations in der Nachbarschaft entstehen, es werden zusammen Ausflüge gemacht und wenn Sam eine neue Idee hat, lässt Bruno (der Hausherr) ihn gewähren. Bruno arbeitet als Software-Ingenieur und hilft am Wochenende auch mal auf der Farm mit. Während meines Aufenthalts wurde ich auf eine ganz natürliche Art und Weise mit in den Haushalt integriert und versorgt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Sam erfahren hat, dass er sich selbst im Leben immer gut über Wasser halten kann mit seinen Fähigkeiten. Gerade jetzt ohne wirklich Geld für diese Reise übrig zu haben, ist es für mich eine Herausforderung in diese Haltung zu kommen, aber das Gefühl ist eigentlich schon da.
// EINFACH MACHEN
Einfach machen. Sich trauen. Das scheint fast das Wichtigste zu sein. Und Sam stört es auch nicht, dass es da so viele offene Projekte im Hintergrund gibt – was mich ja zwischendurch immer mal in Stress versetzen kann. Das wird einfach angenommen. Meditation ist auch Teil von Sams Tagesroutine, auch wenn es nur 5 Minuten sind. Es hilft.
// DIE GROSSE FRAGE dieser Reise…
Die große Frage für mich bleibt: ist es Werder und ich sollte einfach kleiner skalieren, meine Arbeit eher dort oder in Potsdam suchen, unabhängiger von meinen Werten *Hilfe! innere klaustrophobische Gefühle, ich sehe schon die Patina auf meinem Haupt* und mehr in die Gemeinschaft dort investieren, oder darf ich fort und einen neuen Ort mein zu Hause nennen? Sollte es ein Ort sein, der schon soweit entwickelt ist wie Ithaca oder San Francisco? Oder eher wie Sainte Anne-de-Bellevue in Montreal? Oder doch Werder? Mein Herz zieht mich schon über die Hälfte meines Lebens in die USA und ich hab mich immer gut hier leben sehen. Mittlerweile gibt die Vernunft ihren Senf dazu und wirft mir vor, als Kreative so ohne Netz und doppelten Boden vom Sozialstaat lebt es sich vielleicht nicht so entspannt in den Staaten. Aber ha! Dafür ist die Kreativität ja da, sich in harten Umgebungen wie der Wein durch die Ritzen zu winden und seine Blätter auszubreiten. …aber davon abgesehen, ist es fraglich, ob ich hier jemals reinkommen werde oder ob Montreal nicht ohnehin die passendere Alternative wäre. (JAAAAAA! : D) …
Liebe Leser*innen, ihr merkt, es wird grad viel angeregt in mir, endlich eine – noch leicht unklare – Antwort auf das Gefühl des Feststeckens vom winterlichen Frühjahr.
Ich freue mich, falls ihr interessante Gedanken zu diesem (inneren) Reisebericht zu teilen habt :) und hoffe, euch geht es gut und immer besser und falls nicht, dann hat das sicherlich einen guten Grund, der euch am Ende weiterbringt.
Mit Grüßen vom vorbeilaufenden T-Shirt, auf dem steht: Ithaca is Poetry.
Herzlichst aus Ithaca,
— Jenni Ottilie